Du vergisst mich nicht

Eigentlich war Leoni nur im Krankenhaus gewesen, weil sie nach einem kleinen Sturz überwacht werden sollte. Nichts Dramatisches, aber mit 82 Jahren geht man lieber auf Nummer sicher. Als sie nach knapp einer Woche wieder nach Hause kam, war für Leoni und ihre Familie alles anders. Leoni erkannte ihren Bauernhof nicht mehr, fühlte sich fremd, wähnte sich im Urlaub und äußerte nur einen Wunsch: sie möchte bitte nach Hause gebracht werden. Über 60 Jahre hat sie auf ihrem Hof gelebt und gearbeitet, hat sich hingebungsvoll um die Tiere und Menschen gekümmert. An diesem Ort wurden ihre Kinder geboren, hier hat sie ihre Enkel aufwachsen sehen. Ruhig sitzen war nicht ihr Ding, es gab immer genug zu tun, auch nachdem sie die Tiere abgegeben hatten.

Seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus war ihr alles fremd geworden, nicht nur der Hof, auch die Menschen um sie herum und langsam auch die Person, die sie im Badezimmerspiegel sah. Mit der Rückkehr aus dem Krankenhaus hatte sie ihre Kittelschürze nicht mehr angezogen, sie war nun immer ausgehfertig gekleidet, hatte ihre Handtasche griffbereit auf dem Küchenstuhl stehen und wartete darauf, dass ein Auto sie abholen und nach Hause bringen würde. Das „Zuhause“, welches sie schmerzlich vermisste, war nicht der Hof, auf dem sie lebte, sondern der elterliche Bauernhof im nächsten Dorf. Dort würde sie ihre Eltern wiedersehen, hoffte sie, besonders sehnte sie sich nach ihrer Mutter. Ihre Kinder sahen, wie sie litt und konnten ihr dennoch ihren Wunsch nicht erfüllen - der elterliche Hof existierte nicht mehr, die Eltern waren lange verstorben, selbst die Gräber gab es nicht mehr auf dem Friedhof. 

Während Leoni ihre Mutter vermisste, ihr lautlos die Tränen über das Gesicht liefen, verloren ihre Kinder Stück für Stück ihre eigene Mutter. Sie mussten zusehen, wie Leonie Blick immer leerer wurde, wie sie immer weniger auf persönliche Ansprache reagierte. Ein Abschied auf Raten hatte begonnen. Derweil Leoni immer weiter in das Dunkle des Vergessens ging, mussten ihre Kinder und Enkel lernen, mit dieser neuen Situation umzugehen. Leicht war das keineswegs, die Krankheit brachte ganz andere Wesenszüge mit sich. Leoni war in der einen Minute traurig und weinte, fragte nach der Mutter, im nächsten Moment wurde sie scheinbar aus dem Nichts wütend und aggressiv. Selten waren die Tage unbelastet. Es brauchte Zeit, bis ihre Angehörigen Verständnis für die Veränderungen aufgrund der Krankheit aufbringen konnten. Obwohl Leoni ihre Zuneigung nicht mehr artikulieren konnte, so konnte man sehen, wie dankbar sie für Gesten oder Berührungen war.

Auch bei bekannten Texten aus der Bibel oder dem Gesangsbuch leuchtete in ihren Augen ein Zeichen des Wiedererkennens auf. Ihr Glaube ging über den Verstand hinaus und konnte ihr auch in der Dunkelheit Hoffnung und Trost spenden. Bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ.

Ach, bleib mit deiner Gnade bei uns.

Sabine Winkler, Evangelisches Forum


Fotos: Geralt Altmann, pixabay

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